Lehrstuhl für Historische und Indogermanische Sprachwissenschaft
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Was ist Indogermanistik?

  1. Gegenstand
  2. Wissenschaftliches Ziel
  3. Verhältnis zu den Nachbarfächern
  4. Wissenschaftlicher Charakter der Indogermanistik

1. Gegenstand

Gegenstand der Indogermanischen Sprachwissenschaft ist eine Gruppe von Sprachen mit Ähnlichkeiten, die sich so regelmäßig durch Wortschatz und Grammatik hindurchziehen (siehe unten Punkt 4), dass sie nicht auf Zufall, sondern nur auf gemeinsamer Abstammung beruhen können. Historisch gesehen sind die Sprach(grupp)en folgende:

  • Albanisch
  • Anatolisch† (Hethitisch, Luwisch, Lydisch, Lykisch, Palaisch u.a.)
  • Armenisch
  • Baltisch (Altpreußisch†, Lettisch, Litauisch)
  • Germanisch (Dänisch, Deutsch, Englisch, Friesisch, Gotisch†, Isländisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch u.a.)
  • Griechisch
  • Indoiranisch (Avestisch†, Farsi, Hindi, Kurdisch, Marathi, Pashto, Sanskrit†, Urdu u.a.)
  • Keltisch (Bretonisch, Gallisch†, Irisch, Keltiberisch†, Kornisch†, Kymrisch/Walisisch u.a.)
  • Italisch (Latein† und die daraus hervorgegangene romanische Sprachfamilie (Französisch, Italienisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch u.a.), Sabellisch† u.a.)
  • Slavisch (Bulgarisch, Polnisch, Russisch, Serbokroatisch, Slovakisch, Slovenisch, Tschechisch, Ukrainisch, Weißrussisch u.a.)
  • Tocharisch†

Diese Sprach(grupp)en sind ursprünglich nichts anderes als auseinandergedriftete Dialekte einer einzigen Sprache, des Urindogermanischen, das im 4. Jt. v. Chr. in einer nicht klar bestimmbaren Gegend zwischen Ostmitteleuropa und dem Kaukasus gesprochen worden sein muss.

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2. Wissenschaftliches Ziel

Ziel der Indogermanischen Sprachwissenschaft ist es, diese Sprache, von der keine direkten Zeugnisse mehr existieren, aus ihren Nachfahren zu rekonstruieren und so den Werdegang der Tochtersprachen besser zu verstehen. So wie die biologische Evolutionstheorie aus der Beschaffenheit der lebenden Arten Rückschlüsse auf deren Stammbaum und ausgestorbene Vorläuferarten zieht, zieht die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft aus den Eigenschaften der überlieferten Sprachen Rückschlüsse auf deren Stammbaum sowie auf den Wortschatz und die Grammatik der im Dunkel der Vorgeschichte schlummernden Grundsprache. Dadurch kann sie manche Eigentümlichkeiten der lebenden Sprachen und ihrer Verhältnisse erklären, z. B.

  • Die Herkunft von Wörtern und Namen:

Beispiel
Der erste Bestandteil von Werwolf hat z. B. nichts mit wehren oder mit wer? zu tun, sondern mit lateinisch vir 'Mann'. Er kommt in altgermanischen Sprachen noch selbständig vor: althochdeutsch und altenglisch wer, altnordisch verr, gotisch waír 'Mann'. Die ursprüngliche Bedeutung von Werwolf ist also 'Mann-Wolf'. Dieser sprachliche Befund wird durch die alte Geschichtsschreibung und Dichtung erläutert. In der altnordischen Edda-Dichtung ist von úlfheðnar 'Wolfspelzen' die Rede, jungen Kriegern, die auch Berserker 'Ohne-Hemden' hießen, und für ihre ekstatische Raserei im Kampf gefürchtet waren. Die altiranische Dichtung spricht von 'zweifüßigen Wölfen', gesetzlosen meist jungen Kämpfern, die in Bünden am Rande der Sippengemeinschaft lebten. Ähnliches wird von Galliern, Griechen, Römern, Balten und Indern berichtet. So erklären sich auch die Beliebtheit des Tiernamens Wolf als Eigenname: altirisch Olc, altnordisch Úlfr, altenglisch Wulf, altgriechisch Λύκος (Lýkos), altindisch vŕ̥kas - alles übrigens, wie sich beweisen lässt, aus demselben urindogermanischen Wort, etwa *u̯l̥kwos 'Wolf', entstanden - und zusammengesetzte Eigennamen von altgriechisch Λυκοῦργος (Lykurgos) 'Wolfstäter' bis deutsch Wolfgang 'Wolfskampf'.

  • Die engeren und ferneren Verwandtschaften innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie:

Beispiel
Den ersten Bestandteil von Wer-Wolf gibt es außer im Lateinischen (vir) und Germanischen noch im Altirischen (fer 'Mann'), Litauischen (výras 'Mann') und im Altindischen (vī́ra-) und Altiranischen (vīra-), wo es nicht nur 'Mann', sondern auch speziell 'Held' heißt. Dass diese Bedeutung 'Held' die ältere ist, folgt nicht nur aus dem hohen Alter der altindischen und altiranischen Texte, sondern auch aus der strukturellen Analyse des Worts, das aus *vī- 'Kraft, Stärke' (lateinisch vīs 'Kraft') und einer adjektivbildenden Silbe *-ro- zusammengesetzt ist, also eigentlich 'der Starke' heißt. Den ursprünglich adjektivischen Charakter des Worts hat einzig das Tocharische, eine Anfang dieses Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Ostturkestan (Xinjiang) zutage geförderte frühmittelalterliche Literatursprache, im Adjektiv wir 'jugendlich, frisch' bewahrt. Die unterschiedliche Entwicklung der Wörter in den einzelnen Sprachen kann also auch Auskunft über deren wechselseitiges Verhältnis - hier über den frühen Sonderweg des Tocharischen - geben.

  • Die Herkunft grammatischer Kategorien

Beispiel
Überhaupt waren die Wortarten Substantiv und Adjektiv im Urindogermanischen noch nicht so deutlich voneinander geschieden wie etwa im heutigen Deutschen, wo die Adjektive anders flektieren als die Substantive (der gute Mann, ein guter Mann) und nur ausnahmsweise in der Rolle des Substantivs auftreten können. Für manche altgriechischen Wörter, wie φορός (phorós), sind grundsätzlich zwei Übersetzungen möglich: 'Träger' und 'tragend'.

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